North by Northeast: The Earth Moaned in Sorrow

Ist es denn tatsächlich zu glauben, dass schon wieder fast drei Monate seit dem letzten "North by Northeast"-Eintrag vergangen sind? Manchmal zweifle ich wirklich daran, dass ich das jemals fertig bekomme. Zumal die Erinnerung mit der Zeit ja auch nicht besser wird. Nun ja. Als mich im Reiseführer über Jurmala und Kemeri schlau machte, fand ich dort auch einen Kasten mit einem kurzen Text über das ehemalige Konzentrationslager in Salaspils. Solche Sachen kann ich bekanntlich schwer ignorieren, und da ich mich in Litauen schon mit dem Thema auseinandergesetzt hatte erschien es mir sinnvoll, dies noch wenigstens in einem anderen baltischen Land zu tun. Also beschloss ich, mir den Ort anzusehen.

Die Gedenkstätte liegt nördlich der Stadt Salaspils, aber laut Reiseführer sollte man nicht dort, sondern in Darzini aussteigen. Ich kaufte also am Bahnhof eine Fahrkarte für 70 Cent und bestieg einen Zug. Als ich 20 Minuten später dort ankam, schwante mir schon Böses. Der "Bahnhof" von Darzini war ein gammeliger hellgrüner Bunker auf der Nordseite der Bahnstrecke und lag mitten im Wald. Die zwei oder drei Passagiere, die mit mir ausgestiegen waren, gingen in Richtung Süden, wo wohl der Ort Darzini, der offiziell noch zu Riga gehört, liegt. Laut Reiseführer lag die Gedenkstätte aber auf der Nordseite. Ich schaute mich an dem Betonteil um, aber es war weit und breit kein Schild zu erkennen, das einen Hinweise darauf gab, wo das ehemalige KZ zu finden ist. Das hat mich sehr an Paneriai erinnert, wobei es dort ja wenigstens noch ein paar Häuser gab.


Im Reiseführer stand nichts anderes, als dass der Weg zur Gedenkstätte auf der Barackenseite beginnt und man etwa 15 Minuten dorthin läuft. Ich ging also die Bahnstrecke in Richtung Salaspils entlang, wobei ich immer tiefer in den Wald kam und mich immer weiter von den Gleisen entfernte, aber ich musste und wollte ja auf dem Fußweg bleiben. Im Wald war weit und breit niemand zu sehen, keine Spaziergänger, keine Beerenpflücker, niemand. Abgesehen von dem Rattern des einen oder anderen Zuges und den Vögeln war auch nichts zu hören. Zwischendurch kam ich an eine größere Kreuzung, aber da außer Bäumen und Feldern nichts zu sehen war, blieb ich einfach auf dem Weg.

Schließlich geriet ich ein wenig in Sorge. Ich war schon eine halbe Stunde gelaufen und von der Gedenkstätte war nichts zu sehen. Zweifel machten sich breit, ob ich überhaupt jemals dorthin finden würde. Das alles machte mich echt wütend. Ich war wütend auf die Nazis, wegen ihrer ganzen Verbrechen, und ich war wütend auf die Sowjets, weil die das Gedenken auf ein absolutes Minimum beschränken wollten und deshalb keine Wegweiser anbrachten und weil es nach all den Jahrzehnten niemanden mehr interessierte, was dort geschehen war und sich niemand bemüßigt fühlte, sich darum zu kümmern.

Nach einigen Minuten kam ich dann aber zu einer Lichtung direkt an der Bahnlinie wo sich zwei asphaltierte Straßen kreuzten. Es gab immer noch kein Hinweisschild, aber als ich nach links schaute sah ich, dass die Straße auf den Wald zuführte, und dass dort einige Betonklötze lagen. Ich erinnerte mich an die Gedenkstätte von Paneriai, die ja auch nur wenige Meter von der Bahnlinie entfernt im Wald lag. Also machte ich mich auf den Weg in Richtung der Klötze. Nach einigen Minuten sah ich, dass die Straße in einem Parkplatz endete und da wusste ich, dass ich richtig war. Es war genauso wie in Paneriai. Mit einer Ausnahme - es gab keinerlei Gedenktafeln. War ich bisher völlig allein gewesen, hielt zu meiner Überraschung just in diesem Moment ein lettisches Auto auf dem Parkplatz und ein sechs- oder siebenköpfige Familie, die sich irgendwie in das Vehikel gequetscht hatte, stieg aus. Ich dachte erst, sie würden vielleicht nur eine Pause machen, aber dann gingen sie in den Wald. Hinter den Betonklötzen begann ein Fußweg, sodass ich ihnen einfach hinterher trottete.

Nun gab es endgültig keine Zweifel mehr, dass ich an der richtigen Stelle war: Vor mir lag ein riesiger Betonklotz mit der Aufschrift "Aiz siem vartiem vaid zeme" - "hinter diesen Mauern stöhnt die Erde". Die Worte stammen von dem lettischen Schriftsteller Eizens Veveris, der selbst im KZ Kurtenhof, wie es offiziell hieß, interniert war. Genau genommen war es kein Betonklotz, sondern ein langgezogener Betonquader. Dahinter lag eine Wiese mit mehreren Meter hohen Betonfiguren, von dem ehemaligen KZ war nichts mehr zu sehen. Direkt hinter dem "Eingang" war ein Strichliste in den Beton gehauen - ein Strich für jeden Tag, an dem die Menschen in dem Lager gelitten haben.



Es war unverkennbar, dass die Gedenkstätte aus Sowjetzeiten stammte, und das nicht nur wegen des ganzen Betons. Das Museum war nur äußerst spärlich eingerichtet und die Inschriften waren praktisch ausschließlich auf Russisch. Die Ausnahme bildete ein Lageplan in Russisch, Lettisch und Deutsch. Daneben bestand das Museum im Wesentlichen aus Zeichnungen vom Lageralltag, die zeigten, wie die Häftlinge von den Nazis gequält wurden. Über das KZ an sich ist heute nur noch relativ wenig bekannt. Der Bau des Lagers begann im Oktober 1941, nachdem die ersten deutschen Juden im Baltikum eintrafen. Für die Errichtung ließen die Nazis Juden aus dem Rigaer Ghetto heranschleppen, von denen die meisten aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen starben. In dem KZ selbst waren dann vor allem politische Häftlinge inhaftiert. Wie viele Menschen in dem Lager gefangen waren, weiß keiner. Neuere Studien gehen von insgesamt 12000 Häftlingen aus, von denen 2000 bis 3000 dort starben. Sowjetische Forscher hingegen sprechen von 55000 bis 300000 Gefangenen. Sie behaupten zudem, dass die Nazis den inhaftierten Kindern Blut abgenommen hätten, um es in deutsche Lazarette zu schicken.


 


Die einzige Neuerung an der Gedenkstätte ist ein schwarzer Marmorblock, der aus dem Jahr 1995 stammt. Darin befindet sich ein Metronom, das wie das niemals endete Schlagen eines Herzen klingt. Das fand ich echt stark, zumal es mich an Edgar Allen Poes "The Tell-Tale Heart" erinnert hat. Die Nazis konnten die Menschen vielleicht umbringen, aber sie konnten es nicht vertuschen. Ihre Taten sind zu monströs, um sie zu verbergen und das Gedenken an die Opfer wird die Täter für immer überdauern.

 

Anschließend schaute ich mir die Statuen an, die solche Namen wie "die Mutter", "die Erniedrigte", "der Unbeugsame" oder "Solidarität" tragen. Auch wenn ich kein Freund sowjetischer Betonästhetik bin waren diese Figuren durchaus beeindruckend.






Dort wo einst die Baracken standen befinden sich nun - Überraschung, Überraschung - kleine Betonklötze. Ich war ziemlich überrascht, dass in den eingelassenen Gittern oftmals Plüschtiere steckten. Wie ich später erfahren haben, waren auch viele Kinder in Kurtenhof eingesperrt, die die Nazis in Riga aufgelesen hatten, weil sie angeblich irgendwelchen "Banden" angehörten. Diese Kinder sollten eigentlich in Heime oder auf Bauernhöfe weitervermittelt werden, doch ein großer Teil von ihnen (wohl mindestens 600) starb im Lager an Infektionskrankheiten.




Daneben gab es noch einen weiteren Betonklotz an dem Ort, wo einst der Galgen gestanden hatte (mit Inschriften in Russisch und Lettisch) und eine weitere Betontafel, deren Aufschrift mittlerweile jedoch völlig unleserlich ist. Ein Stück davon entfernt befand sich ein Schuppen, wahrscheinlich für den Hausmeister, Picknicktische und ein kleiner Friedhof mit Gräbern deutscher Soldaten, in Schuss gehalten von der Kriegsgräberfürsorge.

Die Familie war inzwischen wieder in ihr Auto gestiegen und davon gedüst. Ein wenig tröstlich fand ich es schon, dass in dieser Gedenkstätte, die gefühlt am Ende der Welt liegt, doch noch Menschen vorbeikommen, um der Opfer zu gedenken. Wie gesagt, die Kunstwerke finde ich gut und angemessen, doch es ist wirklich traurig, dass es so wenig Informationen zu dem Lager selbst gibt, die zudem seit Sowjetzeiten nicht mehr aktualisiert wurden. Und es ist wirklich eine Schande, dass die Gedenkstätte so schwer zu finden ist. Ich glaube nicht, dass ich sie gefunden hätte, wenn ich nicht in Paneriai gewesen wäre.

Nach knapp einer Stunde machte ich mich wieder auf den Rückweg nach Darzini. Wie ich erst später erfuhr, gibt es nur wenige Kilometer entfernt eine weitere Gedenkstätte, die auf der westlichen Seite des "Bahnhofs" liegt. Dort, im Wald von Rumbula, haben die Nazis an zwei Tagen 25000 bis 30000 Menschen erschossen, ähnlich wie in Paneriai. Wenn ich gewusst hätte, dass es dort noch eine Gedenkstätte gibt, hätte ich sie mir auch angeschaut. Nicht, dass ich mich so etwas gerne ansehe, aber ich finde es wichtig, sich damit auseinander zu setzen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich das den Opfern schuldig bin. Ich könnte wirklich kotzen, wenn ich in diesen Tagen höre, dass die Mehrheit der Deutschen mit dem Holocaust am liebsten gar nichts mehr zu tun haben möchte. Dieses selbstmitleidige Gejammere widert mich an. Die Opfer des Nazi-Regimes haben die unvorstellbarsten Qualen durchlitten, aber belästigt werden möchte man damit bitte nicht. Stattdessen stilisiert man sich lieber selbst zum Opfer, weil einem ja angeblich eine "Kollektivschuld" vorgehalten wird. Ekelhaft. Millionen von Menschen sind auf bestialische Art gefoltert und ermordet worden, es ist ja wohl das Mindeste, dass man ihr Leid nicht in Vergessenheit geräten lässt. Vor allem wenn ich sehe, wie viele Antisemiten es immer noch gibt.

In Darzini wartete ich etwa 30 Minuten in der glühenden Hitze, bevor der Zug nach Riga hielt. Mir war ein wenig unwohl, da ich noch keine Fahrkarte hatte (in dem Bunker gab es ja keinen Schalter oder Automaten) und ich befürchtete, dass mir wie in Litauen Schwarzfahrerei unterstellt wird, aber ich konnte ganz unkompliziert eine Fahrkarte im Zug kaufen, von einem netten, jungen Schaffner der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Laurence Fox hatte. Da es bei meiner Rückkehr in Riga erst 14 Uhr war beschloss ich, es endlich in Stalins Geburtstagstorte zu versuchen, nun, da die Sonne nicht mehr direkt über der Altstadt stand. Ein Ticket für die Aussichtsplattform kostete ganze vier Euro, aber die Sicht auf Riga war wirklich ziemlich spektakulär.



Im Anschluss ging ich dann noch in das Okkupationsmuseum, das sich während der Renovierungsarbeiten in einem Gebäude nördlich des Freiheitsdenkmals befindet. Leider war die Ausstellung aufgrund der begrenzten Kapazitäten ziemlich überschaubar. Es ging in erster Linie um die Deportation von Letten nach Sibirien in den 1940er-Jahren. Etwa 14000 wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Etwa 6000 von ihnen starben an den Strapazen, rund 6000 weitere kehrten in den Fünfzigerjahren zurück, nachdem die Sowjets dies erlaubt hatten. Durch die Deportation der Einheimischen und die Ansiedlung von Russen fiel der Anteil von Letten in Lettland in den Fünfzigern von 75 auf 52 Prozent. Auch heute sind nur 45 Prozent der Einwohner Rigas lettisch. Der beste Teil des Museums waren die Berichte von Augenzeugen, die von den Deportationen völlig überrascht wurden. Die meisten nahmen viel zu wenig Kleidung und Essen mit, sodass viele auf der Reise oder in Sibirien erfroren oder verhungerten.

Im Anschluss ging ich zurück ins Hostel um zu duschen. Ich wollte den Abend jedoch nicht komplett dort verbringen, also kaufte ich im Rimi einige Sandwiches, die ich im Vermanes-Park aß. Dies ist neben dem Kanal und der Esplanade der dritte größere Park in der Innenstadt. An dem lauen Sommerabend waren unzählige Menschen dort, die spazieren gingen, picknickten oder auf Bänken saßen und dort Schach spielten. Im Anschluss ging ich noch einmal durch die Altstadt, darunter auch zu einigen Orten, an denen ich noch nicht war, wie eine Häuserreihe namens "Drei Brüder", die bereits über 600 Jahre alt ist.



Riga am Ende des Tages war noch einmal besonders wunderbar, denn im Licht der Abendsonne sah es so aus, als ob die Häuser mit Gold überzogen waren. Doch obwohl es so schön war, war ich auch traurig. Meine Zeit in Riga war einfach so perfekt gewesen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es mir in Estland auch so gut gefällen würde. Das einzige, was mich ein bisschen geärgert hat ist, dass ich am zweiten Tag so viel Zeit mit dem Friedhof und der Miera Iela verplempert habe. Da hätte ich lieber nach Mezaparks fahren sollen, ein Vorort im Grünen der noch so aussehen soll wie vor hundert Jahren. Wer meint, dass man sich nicht vier Tage in Riga und Umgebung beschäftigen kann, der weiß einfach nicht, was die Stadt zu bieten hat. Riga ist so unglaublich schön, dass ich für meinen Teil gerne noch ein wenig länger geblieben wäre.


Kommentare